Gedenksekunde
In einer Zeit, wo freie Fahrt für freie Bürger mehr wert ist als ein Menschenleben, wo jeden Tag irgendwo auf der Welt ein neuer Bürgerkrieg beginnt, wo ich hart für hartes Geld arbeite und schon lange kein schönes Buch mehr gelesen habe, wo ich mit Bescheidenheit, Toleranz und freundlichem Entgegenkommen nichts mehr erreichen kann, denke ich manchmal an die Menschen, die einst für ihre Ideale gestorben sind, denen ich verdanke, daß ich nicht im 3. Reich aufgewachsen bin, die nicht ahnen konnten, was einige ihrer Kinder aus diesen Idealen gemacht haben.
Karlsruhe, Mai 1994
Jeden Tag geh ich an der Mauer vorbei. Die Mauer steht schräg, denn es geht bergauf.
Und ich seh die Mauer und denk nichts dabei; der Alltag zwingt mir seinen Alltag auf.
Es gäbe scheinbar keinen Sinn, bliebe jemand vor dieser Mauer stehn.
Nein, keine Tafel aus Zinn und keine Inschrift sind zu sehn.
Es sei denn, man kennt die Geschichte der Stadt,
und weil es ein Architekt verstanden hat,
reiht sie sich gut in die neue Kunst ein
und steht mit den Hochhäusern im Reim.
Man hat mir gesagt, hier wurden sie erschossen.
Und dort, wo der Mörtel fehlt, dort standen die Genossen.
Und ich geh an der Mauer vorbei, sie steht schräg, denn es geht bergauf.
Ich seh sie an und denk nichts dabei; der Alltag zwingt mir seinen Alltag auf.
Doch plötzlich, als sei der Alltag gewichen,
zieht sie die Blicke der Leute an:
Verewigt ein Skelett von Kreidestrichen
für längere Zeit, und für Sekunden nur kann
die Erinnerung fließen wie feiner Sand,
fertiggebracht durch Kinderhand:
Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht.
Fertig der Mondmann mit Hut und mit Schuh, und darunter steht: Das bist du!
©Jürgen Langhans. Dresden, 8. Dezember 1979