Gedanken zur Redundanz unserer Schriftsprache:
Informationsverlust durch die Rehctschreibrefrom
Ein Vortrag vor der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft e. V. am 25. August 2007 in Köthen
1. Eine kleine Einstimmung
Unserer Sprache wird seit dem "Diktat" der sog. Rechtschreibreform einiges zugemutet. Erstaunlicherweise ist dabei die schriftliche Kommunikation der Sprachgemeinschaft nicht zusammengebrochen: Offensichtlich besitzt unser Deutsch ein gewisses Maß an Redundanz, vielleicht auch "Toleranz", damit wir uns trotz der willkürlichen Eingriffe in Schreibweisen und Kommasetzung auch weiterhin einigermaßen schriftlich unterhalten können. "Einigermaßen", wohlgemerkt, denn ein Verlust von Informationen kann durchaus mit einschneidenden Nachteilen bei der Wiederherstellung einer Nachricht einhergehen. Die Frage ist nun: Wie weit darf man die Schriftsprache beschneiden und verhunzen, damit der Leser aus dem Geschriebenen noch alles einigermaßen versteht? Oder:
Wie redundant ist unsere Schriftsprache?
Um es vorweg zu nehmen: Die Antwort wird relativ ausfallen, denn sie ist abhängig von einem Bezugspunkt. Wählen wir als Bezugspunkt einen waschechten Rechtschreibreformer, so wird diesen ein verhunzter Text weit weniger irritieren (er wird Leseschwierigkeiten sowieso nicht zugeben), als einen gebildeten, anspruchsvollen Leser. Den einen stört es, wenn er einen Satz dreimal lesen muß, den anderen stört es nicht; insofern wird Redundanz unterschiedlich bewertet werden.
Wenn jedoch aus einem Satz alle Kommas entfernt werden, die laut herkömmlicher Schreibung aus gutem Grunde hineingehören, kann es sein, daß keine noch so teure Software und auch kein waschechter Reformer die vom Schreibenden tatsächlich gemeinte Information je wiederherstellen kann:
"Der Vater empfahl(,) dem Schüler(,) nicht zu widersprechen."
So ist es sehr leicht, im gesamtem Text ein "ß" durch "ss" zu ersetzen; aber dieser Vorgang ist zumeist irreversibel. Steht irgendwo ein "ss", kann man nicht ohne besonderen Aufwand erkennen, ob dort früher ein "ß" stand:
- "Aussiedler"
- "Messing"
Nach kurzem Vokal steht bei weitem nicht immer ein "ss", und nach langem Vokal steht auch nicht immer ein "ß". Aber schauen Sie selbst. Das Video zeigt eine Werbung für Toggo-Clever-Club; das ist beinahe Kindesmißbrauch.
Wegen des Zerstörungsgrades der reformierten Schreibweisen ist es sehr schwierig, eine automatisierte Umsetzung von Neu- auf Altschrieb zu programmieren.
2. Die informationstechnische Bedeutung der Schriftsprache
Unsere Schriftsprache ist im Grunde nichts weiter als ein genialer Gedächtnisspeicher: Die beiden Strichmännchen sind weit weg voneinander und wollen sich etwas mitteilen. Also bringt der Mitteilende (links) seine Gedanken aufs Papier und folgt damit ganz bestimmten Regeln; er codiert seine Gedanken in einen Bildbereich. Der Empfänger (rechts) kennt diese Regeln und kann aus dem Geschriebenen auf die Nachricht des Mitteilenden schließen; er decodiert die Informationen des Bildbereiches wieder in sein geistiges Abbild.
Das Ziel des Mitteilenden ist natürlich die möglichst verlustfeie Übertragung seiner Information, denn er möchte, daß er vom Empfänger korrekt verstanden wird. Also brauchen beide ein Regelwerk mit einem hohen Grad an Einheitlichkeit. Verfügen beide jedoch nicht über ein gemeinsames Regelwerk, hat der Empfänger ein Problem, wenn der Mitteilende schreibt:
"Die Wolken sind gräulich."
Der Empfänger assoziiert, daß die Wolken ein bißchen grau sind. Dann überlegt er noch einmal: "Falls mein Kumpel da drüben doch tatsächlich reformiert geschrieben haben sollte, könnten die Wolken auch grauenerregend, also greulich sein." Im Neuschrieb wurde "greulich" nämlich beseitigt, weil dieses Wort für die Schulkinder zu schwierig ist. Was nun? Es gibt viele solcher Ungerreimtheiten, beispielsweise "wieder sehen" und "wiedersehen".
Fazit:
Die reformierten Regeln eignen sich denkbar schlecht zum Codieren, denn sie sorgen in vielen Fällen für einen fatalen Informationsverlust beim Decodieren. Was sind die Folgen?
- Der Leser beginnt eine überflüssige Kontextsuche, um hinter den Sinn der Mitteilung zu kommen.
- Er muß einen Satz(teil) oft mehrmals lesen, ganz besonders dann, wenn wichtige Kommas fehlen.
- Er wird u. U. Wörter falsch aussprechen oder falsch betonen ("mithilfe" statt "mit Hilfe").
- Viele Wörter werden ihm fremd vorkommen, beispielsweise "aufwändig".
- Einige Dinge wird er gar nicht verstehen.
- Letztlich wird er keinen Lesespaß haben.
- Er wird sich veralbert fühlen: "Tollpatsch"?
3. Über Redundanzen und Informationsverluste
Redundanz kommt aus dem lateinischen redundare und bedeutet "im Überfluß vorhanden sein". Ich versuche es mal mit dieser Definition:
In einer Signalmenge sind alle die Informationsanteile redundant, die nicht zur hinreichend vollständigen Beschreibung der gewünschten Zielinformation beitragen.
So benötige ich für die vollständige Beschreibung einer gleichfrequenten Sinusschwingung lediglich 2 Punkte innerhalb einer Periode; durch 2 Punkte kann unter definierten Bedingungen stets nur eine einzige Sinuskurve laufen. Taste ich eine 50Hz-Schwingung 1000 mal pro Sekunde ab, schadet das zwar nicht, aber 900 Abtastungen sind überflüssig, also redundant; 100 Hz Abtastfrequenz genügen, um einen 50Hz-Sinus wiederherzustellen. Die Abtastnorm bei CD-Spielern ist 44,1 kHz, weil man davon ausgehen kann, daß die höchste vom Menschen hörbare Frequenz irgendwo bei 20 kHz liegt.
Und wer es ganz wissenschaftlich haben will:
"Das Nyquist-Shannonsche Abtasttheorem besagt, daß ein kontinuierliches, bandbegrenztes Signal, mit einer Minimalfrequenz von 0 Hz und einer Maximalfrequenz fmax, mit einer Frequenz größer als 2 · fmax abgetastet werden muß, damit man aus dem so erhaltenen zeitdiskreten Signal das Ursprungssignal ohne Informationsverlust exakt rekonstruieren und beliebig genau approximieren kann."
Wie wir sehen, kann ein Verlust an Information durchaus ein gewünschtes Ziel sein, in aller Regel um Datenmengen, die man speichern will, zu minimieren. Typische Beispiele sind Dateien in den Formaten JPG, MPEG, GIF oder MP3. Aber:
Es dürfen nur redundante Informationen weggeworfen werden, also solche, die keinen spürbaren Einfluß auf den (subjektiven) Erhalt der Nutzinformation haben.
Man muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß es u. U. unmöglich ist, aus reduzierten Daten wieder die ursprüngliche, die (objektive) Quellinformation herzustellen. Aus einem nur 2 kByte großen Foto für eine Ikonendarstellung kann ich keine ursprüngliche Auflösung meiner Kamera von 8 Megapixeln mehr herzaubern.
4. Was bedeutet das nun für unsere Schriftsprache?
Wir können den Informationsgehalt bis kurz vor die Sinnentstellung minimieren, beispielsweise durch
- Weglassen ("rau", "Känguru")
- Verdrehen ("Rehctschreibrefrom", "udn")
- Falschschreiben ("Tollpatsch", "aufwändig")
- groß statt klein ("im Allgemeinen", "es bleibt alles beim Alten")
Durch nachfolgende Maßnahmen kommt es tatsächlich zur Sinnentstellung:
- Wörtervernichtung ("gräulich" als grauenerregend)
- Weglassen wichtiger Kommas (!)
Die Frage ist nun allerdings:
Soll es tatsächlich das Ziel unserer Sprachgemeinschaft sein, unseren kostbaren Codierer "Deutsche Rechschreibung" so primitiv zu halten, daß der Leser den Sinn einer Nachricht gerade noch so aus den verlustbehafteten Informationen erkennen kann? Schauen wir uns das noch mal bildlich an.
Phase 1: Dieses Bild ist das Original, aufgenommen mit 2,3 Megapixel.
Phase 2: Da ich nur ein kleines Foto für meinen Drucker brauche, konvertiere ich das Bild in eine JPG-Datei bei absichtlich gewählten 75% Informationsverlust. Das Ergebnis unterscheidet sich subjektiv nicht von Original, also habe ich lediglich redundante Daten beseitigt.
Phase 3: Nun brauche ich noch ein Bild für das Web. Dabei nehme ich auch optische Qualitätseinbußen in kauf und vernichte weitere für mich redundant gewordene Daten. Mein Ziel ist lediglich, daß ich noch als Jürgen Langhans erkennbar bin, egal mit wieviel Gries im Bild.
Phase 4: Wenn ich es nun übertreibe und an die Substanz der eigentlichen Nutzdaten gehe, endet mein Versuch.
Nun simulieren wir diese vier Phasen für ein berühmtes Wort:
- Phase 1: "
Känguruh", das Original, niemand hat damit ein Problem, jeder kann es lesen und kennt die Bedeutung. - Phase 2: "
Känguru", ein kleiner Informationsverlust trübt zwar die Lesefreude, schadet aber noch nicht der Sinnerkennung. - Phase 3: "
Kenguru", ein weiterer Informationsverlust verschärft die Situation, aber das kleine Tierchen ist noch erratbar. - Phase 4: "
Kenru", hier ist der Spaß zu Ende; es fehlen Nutzdaten, und man kann den Sinn nicht mehr erkennen. Das Wort gibt es nicht.
Nun ja, diesen hochwissenschaftlichen Zusammenhang müssen die Reformer erkannt haben und erfinden sicherheitshalber ein paar Redundanzen hinzu:
Tollpatsch
Jetzt kann jeder der will, ein "l" weglassen, dann stimmt's wieder! :) Aber selbst hier ist etwas faul: Denn durch diesen Schreibfehler "ll" verschwindet die Information über die Herkunft des Wortes Tolpatsch, "... was zu beweisen war". Was schließen wir nun daraus?
- Vermeintliche Redundanzen unterstützen das Erkennen bekannter Schreibungen und damit den Lesefluß.
- Wenn das Ziel der ungetrübte Lesespaß sein soll, ist unsere Schriftsprache nicht redundant.
- Unser "Sprachkodierer" muß exakt sein und darf keine Verluste von Nutzdaten zulassen.
5. Gewollte Datenreduktion: Steno
Bestes Beispiel für eine gewollte Datenreduktion beim Schreiben ist Steno. Bei der Stenografie geht es bekanntlich darum, eine Sprachnachricht möglichst rasch mitschreiben zu können. Der Leser dieser Nachricht muß natürlich den Codierer Steno kennen und mit den Besonderheiten des Interpretierens derartig verfaßter Texte bestens vertraut sein, ggf. auch Lesefehler in kauf nehmen.
Die wesentlichen Besonderheiten sind:
- Es gibt keine Groß- /Kleinschreibung.
- Doppelkonsonanten sind nicht obligatorisch, können aber durch einen Unterpunkt angedeutet werden.
- Steno kennt viele Kürzel (auch eigene sind erlaubt!), die ohne Kontext kaum oder gar nicht decodierbar sind.
- Es gibt keine explizite Kenntlichmachung von Vokaldehnungen
- Es besteht kein Zwang zur Schreibung von Umlauten (ä = e; äu = eu; ai = ei; ...).
- Man muß sehr sauber und exakt schreiben.
Bei dieser Zielstellung ist unser Deutsch ganz gewaltig redundant!
- Kringel 1 heißt Beet, könnte aber auch Bett heißen. Danach steht Boot und die Beere.
- Kringel 2 necken und 3 nennen sind kaum unterscheidbar. Links davon steht der Nenner.
6. Der Beitrag der Reform zum Informationsverlust
"Nur" ärgerlich sind solche Schreibweisen:
- im Allgemeinen
- mit im Einzelnen
- im Folgenden
- Er hat nicht Recht / Unrecht(?).
- Es tut mir nicht Leid.
Für eine empfindliche Störung des Leseflusses sorgen solche Konstrukte:
- Schlossinnen-hof (insbesondere wenn getrennt werden muß)
- Er sagte, wir würden uns schon kennen lernen. (Man kann das Kennen nicht erlernen; kennenlernen ist ein eigenstndiges Wort)
- Morgen wird es wieder warm und kalt wird es erst zum Wochenende. (fehlendes Komma nach "warm")
Nur unsicher erkennen lassen sich diese aufgezwungenen Auseinanderschreibungen bzw. Groß-/ Kleinschreibungen:
- tief greifend
- schwer beschädigt
- leicht fallen / kurz fassen
- schwarzes Brett
- wieder erkannt / schief gehen / allgemein bildend
- beim Alten
Gar nicht mehr erkennbar sind u. U.:
- gräulich (das Wort "greulich" gibt es nicht mehr)
- Föhn (das Wort "Fön" gibt es nicht mehr; oder heute vielleicht doch schon wieder?)
- Der Lehrer empfahl dem Schüler nicht zu widersprechen. (Fehlt ein Komma oder fehlt es nicht? Neu- oder Altschrieb?)
Lediglich Fehlinformationen zur Herkunft bieten:
- Tollpatsch / Stängel
- rau / rauh
- aufwändig, aufwänden(?)
Völlig daneben sind diese Erfindungen, denn sie zwingen uns auch noch eine ungewohnte, falsche Sprechweise auf:
- mithilfe (hier betont man mit; mit Hilfe wäre korrekt - schreiben wir in Zukunft auch "mitunterstützung"?)
- zurzeit (hier betont man zur; zur Zeit wäre korrekt)
- wie viel (hier spricht man das weggeworfene Fragewort "wieviel" mit Pause zwischen den Silben)
- so genannt / sogenannt (dito)
- schief gehen / schiefgehen (dito)
Und was sagt ein ganz Prominenter zu diesem ganzen Theater? ... Danke, Herr Mey!
Dr. Jürgen Langhans, überarbeitet im Dezember 2008