Nuleu

für Kurt Langhans

Zu meinem 34. Geburtstag schenkte mir mein Vater eine aus Polysterol selbstgebaute Eule mit zwei großen leuchtenden Augen. Diese Augen bestehen aus Glasröhrchen, die mit einem radioaktiven Material gefüllt sind, welches dieses Leuchten anregt. Das Material ist Tritium, und das zerfällt über viele Jahre zu Helium. Nach 7 Jahren leuchten die Augen nur noch halb so stark. Man nennt das Halbwertszeit. So weiß ich, daß die Augen meiner kleinen Nuklearleuchteule, liebevoll Nuleu genannt, irgendwann einmal verlöschen.

Vor ein paar Jahren hatte mir mein Vater
so etwas Eigenartiges geschenkt,
was keinen Pfennig kostet
und was in keinem Laden hängt.
Und wie es seine Art war,
hat er’s selber hergestellt
in seinem kleinen Keller,
im andern Teil der Welt.

Nun strahlt die kleine Eule,
ausgesägt von ruhiger Hand,
mit ihren grünen Augen
von meiner Zimmerwand.

Leuchte so hell, mein Uhu, leuchte so hell.
Ich weiß, in ein paar Jahren sind deine Augen trüb und matt.
Leuchte so hell, mein Uhu, lange noch hell, ich geb die
Hoffnung noch nicht auf, daß sich da jemand irgendwann
einfach nur verrechnet hat.


Die Augen sind aus Glas,
gefüllt mit einem chemischen Element,
das radioaktiv strahlt und das
man als Tritium kennt.
Und seine weiche Strahlung
regt das Glas zum Leuchten an,
und in alsbald sieben Jahren
kommt nur noch die Hälfte an.

Mein Vater hat ein Leben lang
diese Halbwertszeit studiert,
hat Bücher vollgeschrieben
und beinahe promoviert.
Und in allen Bergwerkschächten,
da kannte er sich aus
und brachte die Pechblende
eines Abends für uns Kinder mit nach Haus.

Leuchte so hell... Schon als ganz kleines Kind
saß ich heulend auf dem Schoß
von meiner Mutti und fragte:
"Was ist den bloß,
wenn wir alle nicht mehr leben,
und was kommt danach?"
Ich träumte schlimme Träume,
und lang lag ich wach.

Der einzige Trost,
den sie mir dann immer gab,
hieß, ich sei doch noch so jung
und ich hab
das ganze Leben noch vor mir und soll
einfach nicht dran denken,
nicht meine Zeit an den Tod
und das Jenseits zu verschenken.

Leuchte so hell... Als mein Vater 60 wurde,
schrieb ich ihm ein Gedicht,
und auch die guten Wünschen für Gesundheit
und Glück vergaß ich nicht,
So ging das Jahr für Jahr,
und ich tröstete mich:
Der Jüngere von uns beiden
war immer noch ich.

Die Halbwertszeit des Lebens
vergeht so rasend schnell,
das sagt mir meine Eule, denn die ist
schon lang nicht mehr so hell.
Und wenn nach vielen Jahren
ihre Augen ganz dunkel sind,
dann erinnert sie mich:
Der nächste, der bin ich.

Text und Musik: ©Jürgen Langhans. Karlsruhe, 26. August 1996